Grillage – eine wissenschaftliche Betrachtung
(Experts)
Peter Honnen, Mitarbeiter des Amtes für Landeskunde Bonn (Volkskunde, Landesgeschichte und Sprachforschung) hat uns freundlicherweise den kompletten Artikel „Volkskultur an Rhein und Maas, Beiträge zur Sprache“, Jg. 17, 1998, H. 1-2, Seite 57-61“ zur Verfügung gestellt.
»Grillage« oder »Grillasch«?
(von Peter Honnen)
Was ist eine Grillaschtorte, wo wird sie gegessen, woher stammt der Name? Eine Umfrage der Abteilung für Sprachforschung des ARL
Der Mundartfragebogen 4, der im November 1997 der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift beilag, endete mit einer Frage, die vielen Leserinnen und Lesern zwischen Rhein und Maas offenbar französisch vorkam:
- Gibt es in Ihrem Ort (im Dialekt oder in der Umgangssprache) die Bezeichnung »Grillaschtorte«?
- Wenn ja, welche Torte ist damit gemeint?
Verbreitung
Nach Auswertung der Umfrage ist es nicht länger verwunderlich, daß viele Rheinländer hierbei an eine Scherzfrage dachten, was sie jedoch keineswegs war. Die Erklärung für das vielfach geäußerte Unverständnis ist denkbar einfach: die Grillaschtorte spaltet das Rheinland. Gilt sie im Norden als das Nonplusultra unter den Konfiserieprodukten (so zum Beispiel in Nettetal) und als Krönung einer festlichen Kaffeetafel, so ist sie im Süden unseres Erhebungsgebietes gänzlich unbekannt: Was soll das sein? ‑ Obwohl mein Großvater Konditormeister war, habe ich nie davon gehört! Hier völlig unbekannt!, waren häufige Kommentare auf den zurückgesandten Fragebögen.
Die Grenzlinie zwischen den Grillaschtortenliebhabem und ihren Verächtern verläuft etwas nördlich von Aachen quer durch das rheinische Tiefland bis in das Bergische Land südlich von Solingen und Remscheid. Nördlich dieser Linie (siehe Karte auf S. 59) ist der Festtagskuchen in fast allen Orten bekannt, wenngleich im Bergischen Land vergleichsweise wenig Meldungen zu verzeichnen waren. Unmittelbar südlich unserer Tortengrenze ist er dagegen völlig unbekannt.
Wie scharf dieser Bruch das Rheinland durchzieht, zeigt das Beispiel von Linnich, wo die Grillaschtorte offenbar besonders bekannt und beliebt ist. In den unmittelbaren Nachbarorten Jülich oder Titz ist dagegen schon der Name völlig unbekannt. Das gleiche gilt für die Städte Leichlingen und Burscheid im Bergischen Land. In den angrenzenden Niederlanden kennt man ‑ zuimindest die Bezeichnung ‑ weder im südlichen Limburg noch in den anschließenden nördlichen Provinzen. Dagegen ist die Grillaschtorte in Teilen Westfalens, wie zum Beispiel Stichproben in Dülmen und Coesfeld ergaben, durchaus noch verbreitet.
Wie jede Umfrage hat auch diese einige »Ausreißer«. Aus den zwei ‑ eindeutig südlich unserer Linie gelegenen ‑ Städten Köln und Bad Breisig wurde jeweils einmal das Vorkommen der Grillaschtorte gemeldet. Im Hinblick auf die Gesamtverteilung können diese Belege jedoch als individuelle Einzelfälle gewertet werden, da zum Beispiel in Köln alle anderen neun Fragebögen Fehlanzeige signalisieren. Andererseits sind solche Doppelmeldungen auch für das eigentliche Verbreitungsgebiet nicht ungewöhnlich. Selbst aus erkennbaren >Hochburgen< der Grillaschtorte wie Mönchengladbach, Viersen oder Krefeld finden sich Fragebogen, die die Bezeichnung als unbekannt melden. In Viersen, wo sie mehrfach belegt ist, war die Grillaschtorte einem alten Konditormeister völlig unbekannt; und auch dem Autor wurde aus seinem Geburtsort Oestrum in Rheinhausen mitgeteilt, daß die Torte hier nie angeboten worden sei, obwohl er mit ihr bei Geburtstagsfeiern aufgewachsen ist und mindestens drei Konditoreien kennt, die den Kuchen im Angebot hatten. Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanzen stützt sich lediglich auf Vermutungen: Die Grillaschtorte wurde in der Regel nicht selbst gebacken, sondern beim Bäcker gekauft. Da man jedoch meistens nur zu seinem Konditor ging, kannte man auch nur dessen Angebot; und ganz offensichtlich konnte nicht jeder Bäcker diese beliebte Torte backen. Nur so läßt sich auch erklären, wieso die Hälfte der Einwohner des kleinen rechtsrheinischen Ortes Wertherbruch sie kannte und liebte, während sie der anderen Hälfte unbekannt war: Es gab eben nur zwei Bäckereien.
Die Grillaschtorte
Was verbirgt sich nun überhaupt hinter dieser geheimnisvollen und nur am Niederrhein bekannten Bezeichnung? In den meisten Orten erhält man dort als Grillaschtorte eine halbgefrorene Eistorte oder eine Baisertorte mit Sahne, die ebenfalls sehr kalt gegessen wurde. Eine andere, häufig genannte Definition war eine Eissplittertorte, die in etwa der Beschreibung entspricht, die sich auf einer Tiefkühlpackung der Firma COPPENRATH& WIESE findet: „Auch coole Genießer sind zu erwärmen, wenn sie diese Eissplitter‑Torte kühl servieren: ein weißer knuspriger schokolierter Baiserboden und zarter Bisquit auf krossem Mürbeteig, dazwischen raffiniert abgeschmeckte Sahne. Gekrönt von schokolierten Nußstückchen, zartbitteren Schokotröpfchen, Nußkrokant und Raspelschokolade.“
Andere und ähnliche Beschreibungen lauten so: „Schichttorte, dünne, knusprige Teigböden mit Eis und Konfitüre dazwischen (Mülheim), Sahnecreme auf Krokant mit Schokoladestreusel (Krefeld); mehrschichtige Cremetorte (Mönchengladbach); Torte aus Baiser Sahne, Mandeln, Schokolade, gefroren (Nettetal), eine besondere Eistorte (Rees).“ Die Grillaschtorte wurde nur zu Festtagen und Familienfeierlichkeiten gekauft, manche Bäcker hatten sie sogar nur am Wochenende oder auf Bestellung im Angebot.
Völlig aus dem Rahmen fallen zwei Meldungen aus Moers (Kirschtorte mit Sahne) und Euskirchen, wo es die Torte eigentlich gar nicht geben dürfte. Dort versteht man
unter einer Grillaschtorte einen Roten‑Johannisbeer‑ oder Stachelbeerkuchen, wobei mit Grillasch der Belag aus Beeren und Saft bezeichnet wird. Beide Benennungen scheinen jedoch individuelle Einzelformen zu sein.
Das Verbreitungsgebiet der Grillage liegt nördlich der Linie
Heute ist die einstige Festtagstorte auf den Kaffeetischen zwischen Mönchengladbach und Emmerich nicht mehr so präsent. In manchen Konditoreien und Cafes wird sie zwar noch angeboten, aber viele Niederrheiner beklagen, daß sie ihren Lieblingskuchen nur noch selten genießen können. Auch der niederrheinische Tiefkühllieferservice »Eismann« hat die Grillaschtorte aus seinem Programm gestrichen, weil nur eine begrenzte Nachfrage im linksniederrheinischen Raum bestand; womit gleichzeitig auch von dieser Seite die eingeschränkte regionale Verbreitung nachgewiesen ist.
Der Name
Obwohl die Fragestellung »Gibt es in Ihrem Ort im Dialekt oder in der Umgangssprache die Bezeichnung >Grillaschtorte<?« bereits eine bestimmte Antwort suggerierte, ordnen die meisten niederrheinischen Dialektsprecher das Wort eindeutig nicht ihrer Mundart, sondern der Standardsprache zu. Diese Einschätzung ist bei einer derart kleinräumigen Variante erst einmal verblüffend, denn Wörter mit einem so eng begrenzten Geltungsgebiet gehören in der Regel zum örtlichen Dialekt. In diesem Fall streiten die Mundartsprecher einen Zusammenhang mit ihrer Ortsmundart jedoch vehement ab: Da die Grillagetorte das Nonplusultra unter den Konfiserieprodukten war. würde auch der eingefleischteste Dialektsprecher es nicht wagen, diese Noblesse sprachlich umzufunktionieren, wollte er sich nicht selbst als des Ungebildetseins outen!, heißt es sogar in einem Fragebogen aus Nettetal. Und in der Tat ist die Grillaschtorte in keinem einzigen rheinischen oder niederrheinischen Dialektwörterbuch verzeichnet, allerdings auch in keinem anderen ‑ standardsprachlichen ‑ Wörterbuch.
Die am Niederrhein gebräuchliche Schreibung >Grillage< zeigt darüber hinaus, wie sich die Dialektsprecher die Wortgeschichte vorstellen. Zwar wird das Wort überall >Grillasch< oder in der südlicheren Variante >Jrillasch< ausgesprochen, in der geschriebenen Form wird jedoch überwiegend die französisierende Variante verwendet. So glauben denn auch die meisten Niederrheiner bei Grillage an ein französisches Lehnwort. Dabei reichen die Vermutungen über geröstete Böden, die kroß gebacken wurden, gitterförmige Deckel auf der Torte bis zu im Backofen gebräunten Baisers. Überall spielt offenbar die Assoziation >Grill/ grillen< eine Rolle, mit der das Wort Grillage erklärt werden soll.
Nun ist zwar das Wort Grill tatsächlich ein französisches Lehnwort, es ist allerdings erst in den zwanziger Jahren auf dem Umweg über das Englische in den deutschen Sprachraum gelangt. Die ältesten bekannten Belege für die rheinische Grillaschtorte ‑ aus Mönchengladbach ‑ stammen dagegen bereits aus den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Hinzu kommt, daß das französische Wort grillage einen Gitterrost bezeichnet, einen Gegenstand also, der kaum mit unserer Eissplittertorte in Verbindung gebracht werden kann.
Eine andere, zweimal geäußerte Vermutung führt in die entgegengesetzte geographische Richtung. Offensichtlich hatten auch mehrere an den Niederrhein ausgewanderte schlesische Bäcker ihre Rezepte für die Grillaschtorte im Gepäck, als sie hier eine neue Existenz gründeten. Dies belegen ihre überlieferten Rezeptbücher aus den zwanziger Jahren. Damit ist zumindest erwiesen, daß es sich bei der Grillaschtorte nicht um eine exklusiv niederrheinische Spezialität handelt. Eines dieser Rezepte schließlich hat auch erste Hinweise für eine zumindest teilweise Lösung unseres Problems geliefert: 80g Zucker in einer Pfanne erhitzen. Wenn er flüssig ist, geriebene Mandeln einstreuen. Unter Rühren etwa 2 Minuten rösten. Pfanne vom Herd nehmen. Das ist die Grillage, von der die Torte ihren Namen hat. Diese Definition wird durch zwei weitere Rezepte gestützt. Grillage ist demnach schlicht und einfach ein anderes Wort für jene Nascherei, die bei uns besser bekannt ist als >Krokant<; und unsere Grillaschtorte wäre lediglich das Synonym für eine Krokanttorte. Das bestätigt schließlich auch das große >Kulinarische Lexikon< von Cedric DUMONT, das auf der Seite 185 den interessanten Eintrag enthält: »Grillage: Österreich, u.a. >Krokant<«.
Dennoch bleiben Fragen. Wie soll das Wort Grillage an den Niederrhein gelangt sein? Warum ist das Backwerk nur in einer kleinen, scharf abgegrenzten niederrheinischen Enklave bekannt, wieso geht ein so deutlicher Riß durch das Rheinland9 Ein österreichischer Name für eine niederrheinische Spezialität erscheint zudem sehr rätselhaft. Das Nachfragen wird also weitergehen, und vielleicht finden sich in der Zukunft weitere Anhaltspunkte zur Klärung des Problems ‑ vielleicht demnächst auch wieder in dieser Zeitschrift.
Literaturverzeichnis
DUMONT, Cedric: Kulinarisches Lexikon. Kochkunst ‑ Lebensmittel ‑ Landesküchen ‑ Nährwerte. Bern/ Stuttgart 1997.
KLUGE, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearb. von Elmar Seebold. Berlin/New York 1989.1
[PFEIFFER. Wolfgang u.a.:] Etmymologisches Wörterbuch des Deutschen, Band 1: A-G, Berlin [Ost-] 1989